Tag 14: Das Schiff

Das Tagebuch von Ozeana Fabert, Teil 1 Flucht - Tag 14: Das Schiff, Fantasy, Karsten D. Fricke

57 vom Blattfall IV-1407

Die Nacht habe ich geschlafen, wie ein Stein. Ich habe nicht mal etwas geträumt. Trotzdem merkte ich, dass mir immer noch die Füße von dem vielen Laufen wehtaten. Als ich heute Morgen aus dem Fenster sah, war der Schnee auch schon wieder weggetaut, die Sonne ging hinter den Bäumen auf. Wir frühstückten, nahmen unsere Sachen und gingen weiter.
Ich stellte fest, dass wir die einzigen Volpuren waren. Ich fragte mich, wo alle hin sind, ob wir die einzigen Überlebenden sind, wir und Niven.

Westwärts gab es einen Fluss. Papa hoffte, dass in der nächsten Stadt Schiffe von dort abfahren würden. So wären wir schneller und könnten uns dort ein wenig ausruhen. So liefen wir weiter, die Dahl entlang. Es war ein langer Marsch, vorbei an Wiesen und durch kleine Wälder. Die Kronen der Bäume wurden immer lichter, die Sonne schien durch sie, wie durch ein seidenes Tuch. Am Boden sah ich ein paar Pilze sprießen, über die sich das Laub des Jahres wie ein Totenschleier darüber gelegt hatte. Der Schleier, der vor einigen Wochen über Volpa kam. Der Schleier, wieso wir hier sind und nun nach einem Boot Ausschau hielten, dass uns hoffentlich sicher in die Neue Welt bringt. Ein paar Vögel zwitscherten. Sogar ein Kuckuck, der scheinbar vergessen hatte weiterzuziehen, schallte durch den Wald.
Kukuck Kukuck.
Kukuck Kukuck.
Irgendwann begann Asiel zu quengeln. Er wollte zu Mama auf den Arm. Sie sagte ihm, dass ihr der Rücken und die Beine wehtaten und er selber laufen sollte. In ihrem Blick sah ich, dass sie mit ihm Mitleid hatte, aber auch die Schmerzen. Sie fasste sich öfter mit der Tatze an den Rücken.
Dann fragte er Papa. Dieser erwiderte auch. Er befahl ihm, einfach weiterzugehen und durchzuhalten. »Wir sind ja bald da!«
Doch Asiel blieb irgendwann stehen und begann zu weinen. Es schallte durch den ganzen Wald. Papa schimpfte ihn voll, er solle sich nicht so haben, schließlich haben wir alle Schmerzen, doch müssten wir weiter. Wir müssen überleben und wenn wir ein Boot erreichen, dann wären wir sicher und könnten uns ausruhen.
Asiel bestand darauf, sich jetzt auszuruhen. Es brach mir das Herz, wie mein kleiner Bruder mich ansah. So verzweifelt mit seinen kleinen Augen, aus denen Tränen die roten Wangen herunter liefen, und auf den kalten feuchten, mit braunem Laub bedeckten Boden, aus denen graue Steine hervor klafften, wie aus einer alten ausgetrockneten Wunde, tropften. Wir wollten weiter, doch Asiel setzte sich auf den Boden. Mama hatte ihn belehrt, dass es dort kalt ist und er krank werden könnte. »Dann kann ich mich ausruhen«, erwiderte er. Papa holte tief Luft, dann entschied er, eine Pause einzulegen, die uns allen guttat.
Auch wenn wir uns bei Maja ein paar Tage ausgeruht hatten, hatte ich das Gefühl, schon zehn Tage am Stück unterwegs gewesen zu sein, dabei ist es erst drei Tage her. Ich musste an Maja denken. Was sie wohl macht? Wie schön es wäre, jetzt bei ihr zu sein.
Asiel beruhigte sich langsam. Er aß und trank etwas. Mama und Papa hatten nichts gegessen. Sie hatten noch keinen Hunger. Doch ich hörte Mamas Magen knurren. Sie schaute mich verlegen an. »Iss mein Kind«, erwiderte sich und lächelte mich an.
Nach einer Weile brachen wir auf. Asiel hatte sich beruhigt. Er rannte manchmal sogar vornweg. Er spielte auf dem Weg, schoss Steine weg und sprang in kleine Pfützen. Die Sonne zog über uns hinweg, bis sie am Horizont vor uns stand. Der Abend brach herein. Von einem Dorf oder Stadt war jedoch weit und breit keine Spur. Ich wollte nicht wieder draußen schlafen. Ich hoffte, dass die Zeiten vorbei waren. Asiel quengelte wieder, aber ich merkte auch, dass Papa nervöser wurde. Er schaute sich um: »Der Ort muss jetzt langsam kommen.«
»Vielleicht hast du dich geirrt?«, fragte Mama.
»Nein, wir haben zusammen geschaut. Es hätte längst ein Ort kommen müssen«, antwortete Niven.
»Und verlaufen?«
Niven schüttelte den Kopf. Papa nahm seine Tasche ab und holte eine der abgezeichneten Karten heraus. Er tippte auf den Weg. »Dort sind wir.« Dann tippte er auf einen schwarzen Punkt, an dem An der Ohr stand. »Dort müssen wir hin.«
Die Stadt lag nordwestlich und die Sonne stand diagonal nach Süd-Westen. Wir mussten richtig sein.

Wir liefen weiter. Ich hatte Angst, dass er die Karte falsch abgezeichnet hatte.
Doch dann hörten wir in der Ferne rauschendes Wasser. Das musste es sein. Von weitem über die Felder konnten wir die Tore einer Stadt sehen.

Auf dem Fluss war ein großes Schiff. Davor, vor dem Steg standen viele Volpuren. Ich hörte weinende Mütter mit ihren Kindern. Viele hatten dreckige, zerrissene Sachen an, Gepäck schienen die wenigsten dabei zu haben. Einige hatten Wunden im Gesicht, an den Tatzen und Füßen. Ein Mann lief an Krücken. Er bat die anderen, ihn vor zu lassen. Ein Wachmann der Stadt ging an ihm vorbei. »He ihr! Ihr müsst euch einreihen!«, sagte er. Er trug eine silberne Rüstung mit goldenem Adler auf dem Bauch. Dann kam er zu uns, durch das Visier in seinem Helm sah Papa ihn an. »Das gilt auch für euch!«
Papa schüttelte den Kopf. »Wir wollen hier übernachten.«
»Wir nehmen keinen mehr von euch auf. Die Stadt ist schon voll genug. Ihr müsst mit dem Schiff fahren, oder den Ort verlassen!«
Papa seufzte.
»Aber, wir sind den ganzen Weg gelaufen. Wir sind müde, unsere Füße tun weh. Der Kleine …« Mama schaute auf Asiel, den sie an ihre Brust hielt. »Er ist den ganzen Tag schon quengelig. Bitt, gebt uns einen Unterschlupf. Draußen in der Kälte erfrieren wir!«, bettelte sie.
Der Mann stand da, wie ein Felsen, der über Jahrtausende nicht verschoben wurde und schüttelte den Kopf. »Nein, wir haben genug von euch in der Stadt. Es ist der Befehl des Bürgermeisters. Wir dürfen niemanden rein lassen. Keine Ausnahmen. Entweder ihr nehmt das Schiff oder ihr geht durch die Tore wieder hinaus.«
»Wann wird das Schiff den Hafen verlassen?«, fragte Papa.
»In einer halben Stunde. Wenn die alle drauf sind.« Die Wache zeigte auf die Menge.
Papa schüttelte den Kopf. »Das sind zu viele.«
Ich spähte durch die Reihen. Ein anderer Mann stach eine Frau mit einem Stock in die Kniekehlen. Diese fiel schreiend zu Boden. An ihrer Hand hielt sie ein Kind, das nicht mal fünf Jahre alt war. Das Kind weinte. Ich wollte weg von hier. Das Schiff zu nehmen war meine Hoffnung, doch da standen zu viele Leute.
»Wird morgen auch ein Schiff den Hafen verlassen?«, fragte Papa. Er schüttelte den Kopf. »Nein, frühestens in einer Woche. Die Fahrt kostet tausend Batzen. Entweder ihr nehmt das Schiff, oder ihr verschwindet jetzt«, wiederholte sich der Mann.
Das Geld hatten wir nicht. »Das ist Wucher!«, schimpfte Mama. »Wir sind Flüchtlinge, haben gerade mal unser Hab und Gut.« Sie zeigte auf unsere Rucksäcke. »Wie sollen wir eine Fahrt bezahlen?«
»Das ist nicht mein Problem. Ein letztes Mal, entweder, ihr stellt euch dort an oder ihr verschwindet aus der Stadt!«
Trotz des Helms konnte ich seinen dunklen Blick und den Zorn erkennen, er war unmissverständlich. Papa sah Niven und Mama an. Asiel winselte vor sich her. Meine Hoffnung, diese Nacht in einem Bett zu schlafen, verflog mit dem Wind. Wir liefen durch die Tore, aus der Stadt hinaus. Weitere Volpuren kamen uns entgegen.

Wir setzten uns unter einen Baum, die Kälte kroch in meine Sachen. Papa schimpfte vor sich her. Doch uns blieb nichts anderes übrig. Er hatte Angst, dass das Schiff kentern würde und wir ertrinken. Die Ohr war ein tiefes Gewässer, sagte er. Niven und er sahen auf die Karte. Den Finger strich er entlang eines Weges. Papas Blick war besorgniserregend, er schüttelte den Kopf. »Hier gibt es nur Ödnis«, sagte er. Wir werden tagelang umherirren, und in der Kälte schlafen müssen. Hier gibt es keine Zuflucht. Also bauten wir unser Nachtlager auf. Von hier aus hörte ich die Leute der Stadt. Ein dumpfes lautes Tröten sagte mir, dass das Schiff nun abfährt, ohne uns. Danach hörte ich Schreie aus der Stadt. Ich wollte nicht wissen, was sie mit denen machen, die nicht auf das Schiff kamen.


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